Interview über eine vergangene Epoche, Emigration, Heimweh und Ferne.
Interview: Ilijic / Titelbild: © nikkiwunderkind
Interview – Heimweh und Ferne
Du wurdest 1942 auf Rab geboren, wie groß war deine Familie?
Vater, Mutter, uns 9 Kinder und die Großeltern.
Alle in einem Haus?
Wir hatten ein großes Haus. Wenn zum Beispiel die Alten starben oder ältere Geschwister aus dem Haus zogen, war natürlich mehr Platz da.
Wie viel Platz hattet ihr Kinder?
Wir Kinder hatten 2 Zimmer mit Etagenbetten zum Schlafen. Die überwiegende Zeit hielten wir uns mehr draußen als drinnen auf.
Wie darf man sich euer Haus vorstellen?
So wie Häuser bei uns gebaut wurden. Ein Steinhaus mit schmalen Fenstern, einer Etage, Flachdach, Veranda und Anbauten. In einem Anbau wohnten die Großeltern, in einem anderen reifte der Wein in riesigen Weinfässern. Es gab einen Hühnerstall und einen Stall für das Vieh, die jedoch nicht am Haus angegliedert waren. Die massiven Steinwände hielten die Räume im Sommer kühl und im Winter warm. Es gab die gute Stube, in der ein gusseiserner Holzofen in der Küche stand. Dort wurde gekocht, gegessen und sich die überwiegende Zeit aufgehalten. Die Häuser wurden entsprechend den klimatischen Bedingungen gebaut, – zum Beispiel sind alle Häuserfronten von der Bora abgewandt, um dem Wind möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten.
Hattet ihr Strom und fließend Wasser?
Strom schon, fließendes Wasser nicht. Dieses holten wir an den Quellen oder aus der Zisterne.
Klingt nicht sehr komfortabel.
Ach was, etwas das man nicht kennt, – vermisst man nicht. Uns fehlte es an Nichts.
Wie haben eure Eltern euch alle sattgekriegt. Wovon habt ihr gelebt?
Wir haben von der Landwirtschaft, Viehzucht, dem Weinanbau und der Fischerei gelebt. Ich erinnere mich wie das von unserer Mutter gebackene Brot aufgegessen wurde, bevor es noch abkühlen konnte.
Wart ihr Selbstversorger oder habt ihr eure Erzeugnisse verkauft?
Etwas Wein, Fleisch oder Wolle verkauften wir auf dem Markt. Größtenteils versorgten wir uns selbst. Auf Rab besaß jede Familie ihr Land. Es kamen Händler von außerhalb, die hauptsächlich Käse und Wein aufkauften. Von dem Geld kauften wir Sachen, die man selber nicht produzierte. Zum Beispiel Öl, Mehl, und Kleidung. Gehungert haben wie nie, bis die kommunistische Partei nach dem Krieg einen 5-Jahresplan aufstellte und wir Fleisch, Wolle, Wein umsonst abgeben mussten. Es blieb nicht viel übrig.
Und wie fandet ihr euch in dieser Zeit zurecht?
Wir mussten. Was übrig blieb, blieb übrig – es traf ja nicht nur uns, sondern die ganze Insel. Die Kommunisten wussten genau, wie viel Vieh die Leute besaßen.
Was hast du an Kleidung als Kind besessen?
Nur das Allernötigste. Wenn Hosen rissen, wurden sie so lange geflickt, bis sie auseinanderfielen. Für die Kirche oder Festlichkeiten gab es eine bessere Garnitur, die nur zu besonderen Anlässen angezogen wurde. Im Sommer gingen wir größtenteils barfuß und für den Winter besaß jedes Kind ein Paar Schuhe. Wenn sie kaputt gingen, brachte man sie zum Schuster. Vor den ersten Schuhgeschäften reparierten und fertigten gelernte Schuhmacher neben ihrer Feldarbeit Schuhe. Von der Schuhmacherei allein konnten sie nicht leben.
Wie sah bei euch ein typischer Tagesablauf aus?
Wenn zum Beispiel im Frühling Käse produziert wurde, stiegen wir gegen Abend auf den Berg zu den Schafen. Übernachteten in einer kleinen Hütte und um fünf Uhr morgens, wurden die Schafe gemolken. Wir brachten die Milch nach Hause und gingen zur Schule, während sich die Alten an den Käse machten. Nach der Schule arbeiteten wir auf dem Feld oder im Weinberg. Ab der 4. Klasse ging ich abends für den halben Anteil zum Fischfang.
Halber Anteil?
Die Hälfte der Bezahlung von dem, was ein Erwachsener erhielt – etwas Geld und manchmal auch Fisch. Es war saisonabhängig, je nach dem welchem Fisch man nachstellte und wie viele Leute benötigt wurden für die jeweilige Fangmethode. Wir fischten je nach Saison nach blauen (z.B. Sardinen, Makrelen) und weißen Fisch (Seehecht, Wolfsbarsch). Eine Methode nannten wir „lancane“. Dabei ziehen mehrere Boote auf eine Entfernung von bis zu 2 Seemeilen ineinander vertaute Taue knapp über dem Meeresgrund. Das circa 2 Zentimeter starke Tau erscheint den Fischen riesig unter Wasser, sie erschrecken sich und fliehen, – bis man den in eine Bucht getriebenen Fisch mit Netzen einkreiste.
Klingt nach Thunfischfang?
Nein, das waren Thunfischfänger mit größeren Kuttern und grobmaschigen Schleppnetzen. Damals gab es noch sehr viel Thunfisch, selbst in Küstennähe. Heutzutage sind sie selten geworden. Im Süden Dalmatiens wird noch im Mittelmeer gefangener Thunfisch gemästet, ansonsten ist der Thunfischfang in der Adria nahezu ausgestorben. Der Thunfisch wird im Mittelmeer abgefischt, bevor er die Adria erreichen kann.
Wie sah die Fischerei aus, musstet ihr rudern?
Das war vor meiner Zeit. Die Netze wurden zum Teil noch mit Muskelkraft aus der Tiefe gehoben. Das konnte bis zu einer Stunde dauern eher ein Fang eingeholt war. Auf manchen Booten gab es auch motorgetriebene Winden.
Und das nautische Wissen …
Lernte man beim Fischen, wir sind damit groß geworden. Später besuchte ich eine nautische Schule. Schon während meiner Ausbildung als Bootsbauer überführte ich als 16-Jähriger alleine Fischerboote in den Süden Dalmatiens.
Eure Arbeit war von den Jahreszeiten geprägt, was habt ihr im Winter gemacht?
Bis auf die Fischerei sowie die Versorgung der Schafe und des Viehs wurde im Winter nicht viel getan. Vom Frühling bis zum Herbst gab es reichlich Arbeit in den Weinbergen und auf den Feldern. Es wurde Mais und Weizen gesät, Schweine geschlachtet, „pršut“ (Prosciutto) gesalzen und Vorräte für den Winter angelegt. Wir haben bis jetzt nicht darüber gesprochen, dass sich nicht nur die direkte Nachbarschaft und Verwandtschaft bei der vielen Arbeit gegenseitig half. Ob bei der Weinlese, Schafschur, Fischerei oder Feldarbeit. Die Leute haben sich sogar ihre Häuser gegenseitig gebaut. Fast ohne Geld. Man sparte etwas für das Material zusammen und begann zu bauen. Es gab Maurer, die ohne Bezahlung arbeiteten und dafür an anderer Stelle Hilfe bekamen. Dieses Gemeinschaftsgefühl war das Normalste auf der Welt. Damals kannten sich alle Bewohner auf der Insel auch jenseits ihrer Ortschaften. Jede Familie hatte ihr Land über Generationen. Zu der Zeit spielte Geld überhaupt keine Rolle. Als ich 1968 nach Deutschland auswanderte, war das noch so. Heutzutage ist das unvorstellbar.
Lag es am Tourismus?
Mitunter, irgendwann bestand nicht mehr die Notwendigkeit. Rab hatte schon sehr früh Hotels, allerdings war die Insel mit dem Auto nicht zugänglich, weil Straßen fehlten. Entweder reisten die Touristen mit Passagierfähren oder ihren eigenen Yachten an. Rab war damals mit dem Süden Kroatiens besser verbunden als heutzutage. Es verkehrten regelmäßig Linienschiffe von Rijeka nach Split, Zadar und Dubrovnik. Zuerst urlaubten Italiener und Österreicher auf der Insel, später kamen dann Deutsche und andere Nationalitäten. Mit den Straßen und Autofähren kam der Massen-Tourismus und die Landwirtschaft verlor an Bedeutung. So etwas passiert schleichend. Die jüngere Generation kennt so ein Gemeinschaftsgefühl nicht mehr. Es war eine Sache der Alten.
Wie habt ihr Euch die Winterabende vertrieben?
Als es noch keine Radios oder Fernseher gab, traf sich die nähere Umgebung jeden Abend bei jemand anderem. Die Frauen strickten, während Männer Karten spielten, sangen und tranken. Es wurde auch musiziert. Alle Generationen waren versammelt. Kinder und Alte. Volkslieder wurden so weitergegeben.
Kulturgut, das auszusterben droht?
Selten hört man noch „Gange“. Ursprünglich stammt diese Gesangsform aus der Herzegovina. Möglicherweise brachten es Einwanderer auf die Insel. Aber unsere „Gange“ sind anders. Dieser Gesang ging daraus hervor, dass sich Leute am Berg Botschaften zuriefen. Das nachhallende Echo wird in dieser improvisierten Gesangform imitiert. Manche Traditionen werden heute noch gepflegt, wie das Spiel auf dem Dudelsack, dem traditionellen Musikinstrument der Insel. Nach wie vor werden Lieder im Dialekt von einem männlichen Klapa-Chor gesungen. In jüngerer Zeit wurde sogar ein Frauen-Chor gegründet.
Und die Feiertage, zum Beispiel an Weihnachten?
Zu Weihnachten oder Ostern wurden besondere Gerichte zubereitet. Zum Beispiel Bakalar, der in unseren Gewässern gar nicht vorkommt, jedoch im gesamten Mittelmeerraum eine lange Tradition hat. (Stockfisch,- gesalzener oder getrockneter Kabeljau). Zur Maškare (Karneval) verkleideten sich die Leute und zogen um die Häuser. Kinder bekamen Süßigkeiten sowie andere Kleinigkeiten. An Feiertagen wurde geschächtet und zu besonderen Anlässen drehte man ein Lamm am Spieß und die Nachbarschaft feierte bis zum Morgengrauen. Aber es wurde auch gefastet, die Alten hielten sich strikt an Brot und Wasser zur Fastenzeit. Es gab Prozessionen, die über Tage gingen. Das haben die Kommunisten nicht gern gesehen. Du weißt, dass Sie genau Buch darüber führten, wer zur Kirche ging. Sie legten sogar schulische Sportwettkämpfe absichtlich auf kirchliche Feiertage und Prozessionen, um Schüler von der Kirche fernzuhalten. Wir sind trotzdem hingegangen, – bis auf die Kinder von überzeugten Funktionären.
Ganz spontan, welches Gericht vermisst du aus deiner Kindheit?
(Überlegt) Getrockneter „štokalj“ (Oktopus) mit Rührei. Der ist schwer zu bekommen.
Und das ungewöhnlichste Gericht, das heutzutage gar nicht mehr gegessen wird?
Vielleicht Möveneier, wir Kinder sammelten sie an steilen Vorsprüngen. Das war nicht ungefährlich.
Nach was schmecken Möveneier?
Daran kann ich mich beim besten Willen nicht mehr erinnern. Es ist zu lange her. Sie sind jedenfalls größer als Hühnereier und ich weiß noch, dass sie einen ganz eigenen Geschmack hatten.
Und wie unterschied sich die Nahrung im Winter?
Wir aßen viel Selje (eine nur in Dalmatien vorkommende, sauer eingelegte Kohl-Art) mit Menule (Menula – Sardellen Art). Natürlich Polenta (Maisbrei) oder Graupen Eintöpfe mit geräuchertem Schweinefleisch sowie Gepökeltes und Eingelegtes. Natürlich viel Fisch und Tintenfisch. Manche sagen es sei arme Leute Essen gewesen, – was Unsinn ist, da es jeder aß. Auch wenn es eine gängige Redensart war, geizige Leute mit „Du stinkst nach Tintenfisch“ zu foppen.
Über was unterhielten sich Leute?
Zumeist unterhielten sie sich über ihren Alltag, nicht so sehr über Politik, den das war gefährlich. Nach und nach kamen die ersten Radios und dann das Fernsehen. Als die ersten Geräte aufkamen, traf man sich bei den Leuten zum Radio hören und später zum Fernsehen.
Und wie fandest du das erste Radio, habt ihr zuvor Zeitung gelesen?
Viel besser, wir konnten zum ersten Mal Fußballübertragungen verfolgen. Zeitungen wurden kaum gelesen. Zumeist waren sie in der Stadt öffentlich ausgehangen. Das Geld reichte nicht für solche Sachen.
Wo konntest du als Jugendlicher ausgehen und Mädchen kennenlernen?
Über den Winter gab es jeden Samstag Tanzveranstaltung. In manchen Lokalen wurden Schallplatten aufgelegt und in anderen spielten Musikkapellen. Auch traditionelle Kolo-Tänze wurden getanzt. Damals war es noch keine Folklore.
Wurde Eintritt verlangt und amerikanische Musik gespielt?
Selbstverständlich musste man Eintritt zahlen. Schlager waren populär, zum Beispiel von Peter Kraus. Ich weiß nicht, wie es später war, aber amerikanische Musik von Elvis Presley wurde gar nicht gespielt. Kroatische und deutsche Schlager waren sehr in Mode.
Seiten 1 2