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Bericht aus Gent

In Gent tragen himmlische Boten Gasmasken. Ein flämisches Sprichwort besagt, dass es bei Sonnenschein regnet, wenn Teufelchen und Engelchen zusammen tanzen.

Text: Ilijic / Titelbild & Galerie © nikkiwunderkind

Brügge sehen und sterben

Brügge und Gent werden oft in einem Atemzug erwähnt. Dabei sind sie bis auf die gut erhaltenen mittelalterlichen Gemäuer grundverschieden. Brügge lässt sich getrost als historisches Disneyland bezeichnen und versprüht die dutrouxhafte Schaurigkeit geschlossener Gesellschaften. Das Städtchen gibt eine perfekte Kulisse für Geschäftsessen ab und so manche überpflegte Gattin verlor sich auf nimmer wiedersehen in diesem teuflischen Kreditkarten-Bermuda. Die Pralinendichte lässt einen die Stadt schnell überdrüssig werden. Sicherlich, – Sehenswürdigkeiten gibt es zuhauf, doch bei dem touristischen Massenandrang braucht es suggestive Bilder von Prärie und Wüste, um nicht seelisch und körperlich zusammenzuklappen.

Besucher entkommen erst in den späten Abendstunden der klaustrophobischen Überzuckerung. Wer Brügge hasst, wird das lebenslustige Gent lieben. Junges Studentenvolk und eine durchmischte Bevölkerung halten diese 1.200 Jahre alte Stadt lebendig. Stets sitzen an warmen Tagen Grüppchen trinkend und schwatzend an den Grachten. Statt Pralinen lassen schlanke Beine und flatternde Röcke, manchen Mann wehmütig auf die Sommertage in Gent zurückblicken. Im Gegensatz zu Brügge verfügt Gent über ein Nachtleben, schließlich wollen sich Tausende Studenten in den zahlreichen Cafés und Bars amüsieren. Die öffentlichen Plätze bieten Straßenmusikanten eine Bühne und dem Publikum eine legendäre Auswahl an Biersorten.

Der Widerspenstigen Zähmung

Unabhängig vom Alkoholpegel bleibt es auch zur Happy Hour friedlich. Happy? Ach, du liebe Zeit, – Kater sind wasserscheu, also auf zur Sightseeing-Bootsfahrt. An den Grachten entlangschippernd, läßt sich so mühelos die mittelalterliche Altstadt erkunden. Mit Blick auf die Graslei und Korenlei mit ihren Gildehäusern legen wir ab und lassen den liebevoll in „Little Big Ben“ getauften Uhrenturm, der seinem großen Bruder wie aus dem Gesicht geschnitten ist, Achtern aus kleiner werden. Die Stadtsilhouette wird von den „de drie torens“ geprägt, Türme der St.-Bavo-Kathedrale, in der auch Jan van Eycks Altar zu finden ist, die St.-Niklas-Kirche sowie dem 91 Meter hohen Belfried. Letzterer gehört zu den Profanbauten eines im Mittelalter aufkommenden und immer selbstbewusster auftretenden Bürgertums. Als demonstratives Herrschaftssymbol bürgerlicher Macht, thront auf der Turmspitze des Belfrieds, ein weithin sichtbarer goldener Drache. Solch Wahrzeichen kommt nicht von ungefähr, Gents Geschichte ist geprägt vom rebellischen Geist seiner Einwohner und deren ausgeprägten Streben nach Unabhängigkeit. Wie schwer die Widerspenstigen zu zähmen waren, davon zeugt eine erlesene Sammlung von Folterwerkzeugen und das Sortiment an Hieb und Stichwaffen, die in der Residenz des Grafen von Flandern auf der Burg Grevensteen ausgestellt sind. Wie zurzeit der Genter Republik folgten nach Gastspielen von Franken, Habsburgern und Franzosen immer wieder Phasen der Autonomie.

Gent, das Amsterdam Flanderns

Stets schmiegen sich Reichtum, Macht und die schönen Künste aneinander. Gemessen an der Fläche bietet Gent eine beeindruckende architektonische Vielfalt. Bei einem Spaziergang lassen sich die Baustile, vom Rokoko-Stadtpalais, über Jugendstilhäuser bis hin zur neoklassizistischen Oper der jeweiligen Epoche zuordnen. Wer etwas sehen will, muss nicht ins Museum, die Grenzen zwischen Kunst, Design, Handwerk und Architektur sind fließend. Seit jeher bekannt für ihre Tuchproduktion, greifen Kreative die Tradition der Leinenweberei wieder auf und vermarkten lokal ihre Manufakturerzeugnisse in modernem Design. Wahre Schmuckstücke finden sich in der Galerie Pont & Plas der Designerin Nicole Thienpont, die außergewöhnlichen Schmuck internationaler Goldschmiede vertreibt. Ihr Portfolio umfasst solch namhafte Designer & Künstler, wie die an der Münchner Akademie der Künste ausgebildete Japanerin Akiko Kurihara. Längst dem Geheimtipp entwachsen, entfalten ihre minimalistischen Arbeiten einen bisweilen zotenhaften Humor. Die wohltuend ungezwungene Atmosphäre der Galerie ist nicht zuletzt der Mitarbeiterin Anne Deknock geschuldet, deren Enthusiasmus einfach ansteckend ist. Unser Ausflugsboot nimmt auf dem Lieve Kurs Richtung der Enthauptungsbrücke „Omthoofdingsbrug“.

Dieser Grachtenabschnitt gehört zu den ruhigeren Wohngegenden. Während unsere Damen an Bord sich gehörig die Hälse verrenken und den Kapitän eines passierenden Ausflugsbootes mit Georg Clooney verwechseln, gleitet auf der Backbordseite die älteste erhaltene Holzfassade Belgiens an uns vorbei. Im 17. Jahrhundert legt sich nach verheerenden Bränden allmählich die Begeisterung für Holzbauten. Apropos Bauten, die in der nächsten Viertelstunde an uns vorbeigleiten, ist es erfreulich, wie in Gent der Gentrifizierung in bester Immobilienlage mit sozialen Wohnungsbau-Projekten begegnet wird. So eröffnet diese Stadt, dank ihrem kulturellen Reichtum und der lebendigen Kreativszene, seinen Gästen bei jedem weiteren Besuch neue Perspektiven.