Das zum UNESCO-Weltkulturerbe zählende Le Havre offenbart einiges über das Wesen und den Wert von Kultur.
Text: Ilijic / Titelbild – Ausschnitt © By Velvet (Own work), CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons
Ein Yoghurtbecher im Reisbrett
Einleitend fangen Reiseblogs freiberuflicher Reiseberichterstatter oftmals mit einem „Mein Paris, New York oder Barcelona“ an, – doch in Le Havre ist nichts meins, bis auf die Frage, was mich hierhin verschlagen hat. So werden sich Alepos Nachfahren fühlen, sollten Sie in den Genuß des Wiederaufbaus nach Gusto des Architekten Auguste Perret kommen. Nach schwersten Zerstörungen im 2 Weltkrieg entwarf dieser Poet des Betons und sein 60-köpfiges Architektenteam den 133 Hektar großen Stadtkern Le Havres komplett am Reisbrett. Die Innenstadt wurde in nur 9 Jahren wieder aufgebaut. Seitdem säumen an die 200 Plattenbauten breit angelegte Boulevards. Eingefärbter Beton, Kolonnaden und schlichte Ornamentik heitern die konstruktive Bauweise leicht auf. Prince Charles witzelte, dass Londoner Nachkriegsarchitekten das vollbrachten, was deutsche Wunderwaffen nicht vermochten. In diesem Punkt muss man der Architekturkritik des viel gescholtenen im Falle Le Havres beipflichten. Zwar steuerte Perret und Kollegen noch das eine oder andere Bauwerk bei, z.B. die Kirche St. Joseph oder Oscar Niemeyers spöttisch von den Einwohnern in Yoghurtbecher getauftes Kulturzentrum, jedoch wird Le Havre nie zum Liebling von Stadtführern avancieren.
In die Welt geworfen
Doch gerade die angemahnte Seelenlosigkeit offenbart viel über das Wesen und die Bedeutung von Kultur, allein durch ihre Abwesenheit. Bei aller Geometrie und konzeptioneller Ordnung fehlen die sonst vorhandenen Orientierungspunkte an denen Touristen eine Stadt erkunden. Den Besucher heißen weder historische Kulissen, noch repräsentative Bauten, Parkanlagen oder Prachtmeilen willkommen. Wohnviertel unterscheiden sich kaum voneinander und lassen auf eine klassenlose Gesellschaft schließen. Angesichts solcher Tristesse würde mancher die eine oder andere Verwahrlosung erwarten. Nicht so in Le Havre. Hier fühlt sich der Mensch geradezu im philosophischen Sinne in die Welt geworfen. Vergleichbar dem Gefühl im Schneidersitz auf einem menschleeren Platz gelangweilt in die Luft zu starren. Eine unvorstellbare Atmosphäre, wenn man vom gegenüberliegenden Honfleur das rege, nächtliche Treiben der Raffinerien im Le Havrer Hafen betrachtet. Bei aller Modernität wirkt die Stadt wie ein Relikt des Kalten Krieges und mitsamt ihrem verblassenden Fortschrittsglauben aus der Zeit gefallen. Als größter Seehafen Frankreichs hängt das wirtschaftliche Wohl der Stadt von dem globalen Warenumschlag sowie der Petroindustrie, Schiffsbau und den umliegenden Renaultwerken ab. Allesamt krisengebeutelte Branchen mit ungewisser Zukunftsperspektive. Pararell zur tendenziell rückläufigen Industrieproduktion nimmt auch die Einwohnerzahl seit der Ölkrise in den 70 Jahren beständig ab.
„Architektur ist die Kunst, den Raum zu organisieren.“
Auguste Perret
Bei der Frage des Wiederaufbaus entschied sich der französische Staat unter den gegebenen Umständen von beschränkten Mitteln und Not der Bevölkerung für einen beispiellosen radikalen Neuanfang. Pragmatisch, funktional und vor allen Dingen bezahlbar sollte es sein. Die Erbauer räumten den Bewohnern durchaus mit sozialen Hintergedanken viel Licht und Raum ein. So wie man allein von Luft und Liebe schlecht leben kann, stammt auch dieses Patentrezept aus einem Jahrhundert der universellen Lehren und Wahrheiten. In der Architektur sah Perret, die Kunst den Raum zu organisieren. Wo wir wieder bei der Frage von Raum und Zeit angelangt sind. Die leere Leinwand oder ein weißes Blatt stellt für jeden Kreativen die Gravitation dar, die es mit einem Kraftakt zu überwinden gilt. Deshalb kann man Perret schwerlich etwas vorwerfen. Er fing buchstäblich bei Null an. In dem Roman „Solaris“ beschreibt der polnische Scifi-Autor Stanislav Lem eine Gruppe von Kosmonauten, die in der Ferne des Alls von ihren Erinnerungen in Form realer Erscheinungen heimgesucht werden. Der Filmkritiker Georg Seeßlen, interpretierte die Verfilmung als Verhängnis des Menschen durch seinen geistigen Reichtum unbelastet zu neuen Ufern aufzubrechen. Ferner führt Seeßlen fort: „Weil die Menschen ihre Vergangenheit, ihr Leiden und ihre Erinnerungen mit sich in den Weltraum schleppen, müssen sie an ihre Grenzen geraten.“ Soweit in das All muss man nicht schweifen. Welche Erinnerungen nehmen die Millionen von Wanderarbeiter in die Satelliten-Städte Ostasiens mit? Wie schläft es sich in einer japanischen Schlafbox? Lem beschreibt durchweg irdische Probleme und bei aller Komplexität der Moderne fühlt sich der Mensch schnell als Astronaut im eigenen Leben. Steht Le Havre stellvertretend als Mahnmal für alle abgerissenen historischen Stadtviertel? Läßt sich Fortschritt zyklisch denken, statt eines linearen Aktes der Zerstörung? Werden wir zukünftig digitale Paläste und Gärten durchstreifen, während unsere Körper in einer ruinierten Umwelt hausen? Um mit Stanislaw Lem zu enden: „Es gibt keine Antworten, nur Alternativen.“